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Beteiligung von Bürgerinnen und Wählern – ein Thesenpapier

Klaus Jennewein

Die im Stadtrecht von Innsbruck erfolgte rechtliche Verankerung, ihren Stadtteilen eine demokratisch legitimierte Stimme zu geben, ist nicht selbstverständlich, aber beispielgebend.
Dieser rechtlich verankerte Vertretungsanspruch ist eine Errungenschaft, die Vorbildcharakter haben sollte.

Die Institutionalisierung ermöglicht eine Partizipation aller und vermindert die Gefahr der Durchsetzung von lobbyierenden Einzelinteressen.

Es mutet eigenartig an, in Zeiten der Krise der repräsentativen Demokratie gerade auf kommunalpolitischer Ebene solche Errungenschaften zu opfern und Petitionsrechte als Alternative zu präsentieren.

Ein Petitionsrecht wird und kann nicht ersetzen …

  • die vorbereitende, aufbereitende, geordnete und strukturierte Kommunikation mit dem Gemeinderat bezüglich stadtteilrelevanter Anliegen und Probleme
  • die durch demokratische Wahl legitimierte und von Einzelinteressen unabhängige Vertretung der Bürgerinteressen
  • die Gewährleistung einer Vorabfilterung von Einzelinitiativen im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit dem Allgemeininteresse
  • die Einbindung aller Parteien und Betroffenen in die Kommunikation
  • die rechtlich garantierte Einbindung von Betroffenen in alle den Stadtteil betreffenden Angelegenheiten (Raumordnung, Widmungen etc.)
  • die Sicherstellung der Entwicklung des jeweiligen Stadtteils und die Erarbeitung von Konzepten.

Es kann nicht sein, im Wissen um all diese Mängel ein Petitionsrecht in Abtausch mit der institutionalisierten Mitgestaltungsmöglichkeit der Stadtteilausschüsse als Meilenstein der BürgerInnenbeteiligung zu propagieren.

Es darf nicht ein „entweder – oder“, sondern muss ein „sowohl – als auch“ sein.

Das Petitionsrecht soll die Möglichkeit schaffen, dass sich Bürgerinnen und Bürger „direkt und über die Stadtteile und die Stadtteilausschüsse hinweg“ an den Gemeinderat wenden können. Das unterstellt, dass die Stadtteilausschüsse ein Hindernis seien, das zwischen BürgerInnen und Gemeinderat stehe.
Damit verkennt die Politik unser Standing.
Die nicht unerheblichen Hürden für die Einrichtung eines Stadtteilausschusses wurden jeweils mit deutlichem Quorum in Vill und Igls genommen, die Wahlbeteiligung war bei allen bisherigen Wahlgängen hoch, die Kommunikation wird als positiv erlebt, der Unterausschuss wird als Sprachrohr verstanden, der den Ortsteilen Gehör verschaffen konnte.

Interessensverbände, Vereine, Bürgerinitiativen sind wertvolle Bestandteile eines funktionierenden Gemeinwesens. Sie sind aber schon definitionsgemäß interessengeleitet.

Demokratiepolitisch höchst bedenklich ist daher die Aussage, die Gemeindepolitik könne die Kommunikation ja mit Vertretern aus lokalen Dachverbänden statt mit gewählten Vertretern der Stadtteilausschüsse führen.

Ein relevanter Teil der (zugezogenen) Bevölkerung ist am lokalen Vereinsgeschehen kaum bis gar nicht beteiligt. Die Interessen dieser BewohnerInnen würden unter den Tisch fallen. Außerdem würden das immer informelle Kontakte bleiben und könnten das verankerte Anhörungs- und Antragsrecht nicht substituieren.

Aufgrund des ausgeprägten Persönlichkeitsprinzips und eines nicht parteipolitisch geprägten Bewerbungsverfahrens bei der Wahl ist die Gefahr der interessengeleiteten Politik-Umsetzung erheblich minimiert.

Wir halten daher den über die Medien verbreiteten und ohne Einbindung der gewählten Repräsentanten der Stadtteilausschüsse erstellten Entwurf des städtischen Rechtsausschusses für ein klares Zeichen gegen BürgerInnenbeteiligung.

Er beseitigt ein über Jahre bewährtes Konzept.

Er lädt BürgerInnen nicht zum Mitmachen ein, sondern mitmachende BürgerInnen aus.

Er ist ein Garant für weitere Politikverdrossenheit. Es wird mutwillig ein Instrument zerstört, das noch im Jahr 2018 als ein positives (FI), gelungenes (ÖVP), wichtiges (FPÖ), gutes (Grüne) Gremium bezeichnet wurde.

Es ist ein wenig erschreckend, dass sich die politischen Vertreter unserer Stadt nicht mit einer Weiterentwicklung demokratischer Mitbestimmungsformen auseinandersetzen (wollen). Wenn man nur ein wenig in Österreich, Europa und darüberhinaus recherchiert, würde man interessante Beispiele und Formen für eine ernsthafte Befassung einer Einbindung von Bürgern und Bewohnerinnen finden.

Deshalb möchten wir vorstellen (Quelle: Tamara Ehs, Die demokratische Gleichheit des Loses: Aus der Nische des Rechtswesens zurück in die Polis, in momentum QUARTERLY, Zeitschrift für Sozialen Fortschritt 2019 | Vol. 8, No. 1, p. 14-26) :

  • Die irische Citizens‘ Assembly (BürgerInnenversammlung, anfänglich als Constitutional Convention zusammengetreten):

Die politischen Institutionen der Republik Irland hatten durch die Finanzkrise 2008 bei vielen BürgerInnen einen immensen Vertrauensverlust erlebt. Um diesem entgegenzutreten, entschlossen sich Parlament und Regierung 2011 zu einem Demokratieexperiment. Zunächst 66, später 99 EinwohnerInnen Irlands wurden per Losverfahren ermittelt, um an mehreren Wochenenden unter Begleitung eines ModeratorInnenteams in Beratungen und ExpertInnenhearings Politikempfehlungen an die Regierung abzugeben. Die Constitutional Convention und nun die Citizens‘ Assembly tag(t)en unter der Prämisse, dass BürgerInnen gemeinsam in der Lage seien, zukunftsweisende Politikentscheidungen zu treffen.
Auf diese Weise führte Irland 2015 per Verfassungsänderung die Ehe für alle ein, lockerte 2018 das strikte Abtreibungsverbot und debattierte grundsätzliche Fragen wie etwa den Umgang mit einer alternden Gesellschaft oder Irlands Beitrag zur Bekämpfung der Erderwärmung.
Aufgrund des Erfolges sind Citizens’ Assemblies nunmehr fixer Bestandteil der irischen Politikgestaltung.

  • Seit 2006 organisiert das beim Amt der Vorarlberger Landesregierung angesiedelte Büro für Zukunftsfragen Bürgerräte als partizipative Ergänzung der repräsentativen Demokratie.

Diese werden auf Gemeinde-, Regional- und Landesebene durchgeführt und sind bereits fixer Bestandteil der Politikgestaltung im Ländle. Seit 2013 ist dieses Instrument der partizipativen Demokratie auch in der Landesverfassung verankert und kann auch von BürgerInnen selbst initiiert werden. An Bürgerräten teilnahmeberechtigt sind alle in Vorarlberg wohnhaften Menschen, die per Zufallsauswahl aus dem Melderegister eingeladen werden. Der Bürgerrat formuliert Lösungsvorschläge, die an die Landesregierung weitergegeben werden.
Beispielgebend für die Vorarlberger Bürgerräte wie auch für die irische BürgerInnenversammlung war die Citizens’ Assembly on Electoral Reform in der kanadischen Provinz British Columbia, die in den Jahren 2003 bis 2005 mit 161 gelosten BürgerInnen ein neues Wahlrecht ausarbeitete.
Untersuchungen ergaben, dass die BürgerInnen angesichts großer politischer Krisen eher einander als den staatlichen Behörden vertrauen. Die Vorarlberger Bürgerräte wiederum sehen die gelosten Gruppen zudem als Mittel gegen Populismus. Denn wenn Menschen ihre Echokammern verlassen und über soziale, ökonomische und Altersgrenzen hinweg miteinander ins (moderierte) Gespräch kommen, verlieren populistische Vorschläge im Lauf der Diskussionen deutlich an Boden.

  • Ende Jänner 2019 beschloss die Stadt Madrid den ersten permanenten Bürgerrat der neueren europäischen Geschichte, den Observatorio de la Ciudad.

Per Zufallslos ermittelte MadrilenInnen bekleiden ab dem Frühjahr ein Jahr lang ihr Amt und beraten die Stadtregierung. 2020 werden neue BürgerrätInnen gelost.

  • Das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens zog Ende Feber 2019 nach und richtet zurzeit einen 24 Personen umfassenden gelosten Bürgerrat ein.

Dieser legt die Themen für eine ebenfalls geloste BürgerInnenversammlung fest und wird und in der politischen Umsetzung mit der Regierung zusammenarbeiten.

  • Einen kleinen Schritt in diese Richtung hatte das österreichische Parlament im Rahmen der 2015 abgehaltenen Enquetekommission „Zur Stärkung der Demokratie“ getan.

Zur Teilnahme mit Rederecht (allerdings ohne Stimmrecht) waren erstmals auch acht BürgervertreterInnen eingeladen. Für einen Platz hatte man sich bewerben können. Aus den insgesamt 1.200 Bewerbungen wurden schließlich vier Frauen und vier Männer, davon die Hälfte unter und die andere Hälfte über 35 Jahren, ausgelost.

  • Eine weitere Anwendung des Losverfahrens wurde 2018 von der SPÖ im Rahmen der Erarbeitung eines neuen Parteiprogramms unternommen.

Um nicht nur jene zu hören, die sich ohnehin bereits aktiv in der Partei einbringen, wurden unter sämtlichen Mitgliedern Plätze für die Teilnahme an themenspezifischen Diskussionstagen verlost. Die sogenannten Mitgliederräte wurden durch eine qualifizierte Zufallsauswahl besetzt, die Gender- und Altersbalance, regionale Verteilung sowie unterschiedliche Dauer der Parteimitgliedschaft berücksichtigte.

  • In der Schweiz möchte der Politikwissenschafter Stojanović die schweizerische Demokratie um ein BürgerInnenkomitee ergänzen.

Dabei sollen im Vorfeld eines Referendums geloste BürgerInnen über fünf Tage hinweg gemeinsam mit ExpertInnen über den Gesetzestext diskutieren; ihr Gutachten ergeht gemeinsam mit dem üblichen Abstimmungsbüchlein an alle StimmbürgerInnen. Wie bereits bei der irischen Citizens’ Assembly soll durch den Einbezug gewöhnlicher BürgerInnen auch das Vertrauen in die politischen Institutionen gestärkt werden.

  • Die Stadt Heidelberg hat im Arbeitskreis Bürgerbeteiligung Leitlinien für eine mitgestaltende Bürgerbeteiligung erarbeitet.

Diese wurden im Juli 2012 im Gemeinderat einstimmig beschlossen. Sie bilden die Grundlage für alle laufenden Bürgerbeteiligungsverfahren in Heidelberg.

Mit diesen Beispielen wollen wir eines zeigen:

Es wäre an der Zeit und es wäre ein Versprechen, über eine Weiterentwicklung der Einbindung und Partizipation von Wählern und Bewohnerinnen nachzudenken. Es geht uns nicht um die Rettung oder Aufrechterhaltung des status quo. Wir sind offen dafür, über die derzeitige Konzeption zu reden, nachzudenken, sie zu variieren, sie weiter zu entwickeln.

Dabei sollte man sich aber an die Ausrichtung im Sinne der oben dargestellten Modelle orientieren.

Der vorliegende Entwurf macht das Gegenteil. Er zerstört ein funktionierendes Modell und setzt an dessen Stelle ein Alibi-Instrument, das als Meilenstein der Bürgerbeteiligung verkauft wird, in Wahrheit aber wirksame Mitsprachemöglichkeiten beseitigt.

Dass das über alle ideologischen Gegensätze hinweg auf einen derart breiten Konsens zu beruhen scheint, macht uns betroffen und nachdenklich.

3 Gedanken zu „Beteiligung von Bürgerinnen und Wählern – ein Thesenpapier“

  1. Stimmt, es ist alles gesagt und bestens durchdacht, was man ja sonst nicht immer findet. Wünsche viel Glück und Kraft zum Weiterkämpfen!

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